A. Hintergrund
Der EuGH entschied erstmals über ein Kopftuchverbot bei einem öffentlichen Arbeitgeber. Als eine Büroleiterin beantragte, am Arbeitsplatz Kopftuch tragen zu dürfen, untersagte die belgische Gemeindeverwaltung ihr dies und der Gemeinderat führte eine Verpflichtung zur Neutralität in die Arbeitsordnung ein, die das Tragen von religiösen Zeichen untersagte.1
B. Entscheidung
In seiner Entscheidung bestätigte der EuGH zunächst seine Rechtsauffassung, dass eine interne Regel, die unterschiedslos jedes Tragen von sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Zeichen verbiete, keine unmittelbare Diskriminierung nach Art. 2 Abs. 2 lit. a Gleichbehandlungsrichtlinie darstelle.2 Die interne Regel stelle zwar eine mittelbare Diskriminierung dar.3 Allerdings sei die Benachteiligung nach Art. 2 Abs. 2 lit. b Ziff. i Gleichbehandlungsrichtlinie gerechtfertigt, da die Gemeinde den Grundsatz der Neutralität des öffentlichen Dienstes habe umsetzen wollen, der seine Rechtsgrundlage in der belgischen Verfassung fände.4 Der Wille, ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu schaffen, sei ein rechtmäßiges Ziel, das die Ungleichbehandlung sachlich rechtfertigen könne.5
C. Stellungnahme
Der EuGH hält damit trotz heftiger Kritik daran fest, dass eine Neutralitätsregel wie die in Rede stehende nur eine mittelbare Diskriminierung darstellt und folglich leichter zu rechtfertigen ist.6 Nur durch diese Einordnung gelingt hier die Rechtfertigung nach Art. 2 Abs. 2 lit. b Ziff. i Gleichbehandlungsrichtlinie, die bei einer unmittelbaren Diskrimnierung schon gar nicht anwendbar wäre. Die Neutralitätsregel knüpft jedoch unmittelbar an die Religion an, denn sie verbietet religiöse Zeichen. Dies wird auch dadurch deutlich, dass nach der Neutralitätsregel ein Kopftuch aufgrund modischer Vorlieben getragen werden darf, religiös motiviert aber verboten ist. Somit liegt eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion vor. Es ist für die Einordnung nicht entscheidend, ob darüber hinaus noch weitere Merkmale verboten werden.
Zudem schwächt der EuGH den Diskriminierungsschutz im Vergleich zum letzten Kopftuchurteil zum Kopftuchverbot beim privaten Arbeitgeber weiter,7 indem er das Erfordernis des „wirklichen Bedürfnisses” bei öffentlichen Arbeitgebern entfallen lässt.8 Während in der letzten Entscheidung noch festgestellt wurde, dass der bloße Wille, eine Neutralitätspolitik in einem Unternehmen zu betreiben, nicht ausreicht, um ein Kopftuchverbot zu rechtfertigen,9 genügt ebendies nach dem vorliegenden Urteil. Damit wird auch die Kluft zwischen dem europäischen und deutschen Diskriminierungsschutz erweitert. In Deutschland ist zur Rechtfertigung eines Kopftuchverbots auch bei einem öffentlichen Arbeitgeber eine konkrete Gefahr erforderlich,10 was mit dem Erfordernis des „wirklichen Bedürfnisses” des letzten europäischen Kopftuchurteils vergleichbar ist. Der EuGH gibt selbst zu, dass Neutralitätsregeln wie die vorliegende statistisch fast ausschließlich weibliche Arbeitnehmer, die aufgrund ihres muslimischen Glaubens ein Kopftuch tragen, treffen.11 Durch die Entscheidung lässt der EuGH kopftuchtragende Musliminnen, die ohnehin schon marginalisiert werden, schutzlos. Er legitimiert, dass diese Frauen in das „back office” verbannt werden,12 mithin unsichtbar gemacht werden oder vollständig aus dem Arbeitsleben verdrängt werden.13 Der EuGH entfernt sich folglich von dem in Art. 3 Abs. 3 S. 4 EUV niedergelegtem Unionsziel, soziale Ausgrenzungen und Diskriminierungen zu bekämpfen.14 Durch die Entscheidung tritt nochmals zu Tage, dass das Neutralitätsbild des EuGH von einer Homogenitätsvorstellung geprägt ist, das längst nicht mehr der pluralistischen Gesellschaft in Europa gerecht wird.15
1 EuGH v. 28.11.2023 – C-148/22, Rn. 13-15.
2 EuGH v. 28.11.2023 – C-148/22, Rn. 25-27; zuvor EuGH v. 14. März 2017 – C-157/15, Rn. 30, 32; EuGH v. 15. Juli 2021 – C-804/18, C-341/19, Rn. 55; EuGH v. 13.10.2022 – C-344/20, Rn. 33.
3 EuGH v. 28.11.2023 – C-148/22, Rn. 29.
4 EuGH v. 28.11.2023 – C-148/22, Rn. 30-32.
5 EuGH v. 28.11.2023 – C-148/22, Rn. 33, 36.
6 Für Einordnung als unmittelbare Diskriminierung u.a. Generalanwältin Sharpston beim EuGH Schlussantrag v. 13.7.2016 – C-188/15, Rn. 88, 100, 135; Mangold/Payandeh, EuR 2017, 700, 704; Hartmann, EuZA 2022, 393, 396; Sagan, EuZW 2017, 457, 458 f.; Walter/Tremml, NZA 2021, 1453, 1454; Germann, EuR 2018, 235, 241.
7 Vgl. Mangold/Payandeh, EuR 2017, 700, 723.
8 EuGH v. 15. Juli 2021 – C-804/18, C-341/19, Rn. 64.
9 EuGH v. 15. Juli 2021 – C-804/18, C-341/19, Rn. 64.
10 BVerfG v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10, Rn. 80.
11 EuGH v. 15. Juli 2021 – C-804/18, C-341/19, Rn. 59; vgl. auch Mangold/Payandeh, EuR 2017, 700, 709.
12 Vgl. EuGH v. 14. März 2017 – C-157/15, Rn. 38, 42 f.
13 Vgl. auch Mangold/Payandeh, EuR 2017, 700, 718; Germann, EuR 2018, 235, 247.
14 Vgl. Sagan, EuZW 2017, 457, 461.
15 Vgl. Sura, EuZW 2022, 65, 66; Germann, EuR 2018, 235, 247; Mangold/Payandeh, EuR 2017, 700, 715.