A. Sachverhalt
Gemäß § 2 Abs. 1 des nordrhein-westfälischen Justizneutralitätsgesetzes (JNeutG NRW) dürfen Beschäftigte sowie ehrenamtliche Richterinnen und Richter in der gerichtlichen Verhandlung keine wahrnehmbaren Symbole oder Kleidungsstücke tragen, die bei objektiver Betrachtung eine bestimmte religiöse, weltanschauliche oder politische Auffassung zum Ausdruck bringen. Für die Wahlperiode 2024 bis 2028 wurde am AG Dortmund zur Hauptjugendschöffin eine Muslima gewählt, die erklärte während der gerichtlichen Verhandlungen ihr Kopftuch zu tragen. Der Vorsitzende des Jugendschöffenausschusses des AG Dortmund beantragte daraufhin ihre Enthebung, da er das Tragen des Kopftuchs als einen Verstoß gegen § 2 Abs. 1 JNeutG NRW wertete.1 Die Schöffin erklärte im Rahmen ihrer Anhörung vor dem AG Dortmund, dass sie das Kopftuch seit der achten Klasse aus Bekenntnisgründen trage und auch während der gerichtlichen Verhandlungen davon nicht abweichen könne.2
B. Entscheidung
Das OLG Hamm entschied, dass die Weigerung der Schöffin, ihr Kopftuch während der Gerichtsverhandlung abzunehmen, keine gröbliche Amtspflichtverletzung im Sinne des § 51 Abs. 1 GVG darstelle, sondern es sich um eine sonstige Unfähigkeit zur Ausübung des Schöffenamtes im Sinne des § 51 Abs. 1 GVG handele.3 Die Weigerung der Schöffin, während der Gerichtsverhandlung auf das Tragen des Kopftuches zu verzichten, verstoße gegen § 2 Abs. 1 JNeutG NRW.4 Das Verbot des Tragens religiöser Symbole während der Verhandlung sei im Hinblick auf die Bedeutung der staatlichen Neutralität und die geringe Eingriffsintensität gegenüber der Muslima auch als verhältnismäßig anzusehen.5
Weiterhin stünden das Amtsenthebungsverfahren nach § 51 Abs. 1 und die Streichung von der Schöffenliste gemäß § 52 Abs. 1 GVG in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander, die sich folglich gegenseitig ausschließen würden.6
C. Stellungnahme
Der Senat folgt der Auffassung, dass eine gröbliche Amtspflichtverletzung gemäß § 51 Abs. 1 GVG als ein Verhalten zu definieren ist, das aus einer objektiven Perspektive die Eignung eines Schöffen für das Schöffenamt infrage stellt, insbesondere wenn dieser nicht in der Lage ist, unparteiisch nach Recht und Gesetz zu entscheiden. Im vorliegenden Fall liegt jedoch kein Fehlverhalten der Schöffin vor. Vielmehr ist die Frage, ob eine Kollision zwischen der grundrechtlich garantierten Religionsfreiheit nach Art. 4 GG und den staatlichen Neutralitätsanforderungen bei der Ausübung des Schöffenamtes vorliegt, die zu Lasten der Religionsfreiheit geht.
Der Auffassung des OLG Hamm, wonach ein Kopftuchverbot für Schöffinnen mit dem Grundgesetz vereinbar ist, ist aus folgenden Gründen zu widersprechen:
I. Rechtsstellung der Schöffen
Das Schöffenamt ist ein historisch gewachsenes „Palladium der Freiheit“ und der zivilgesellschaftlichen Solidarisierung gegen das staatliche Gewaltenmonopol.7 Als gewählte Richter der Bevölkerung liegt es in ihrer Verantwortung als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Staat, die Gesellschaft zu repräsentieren und den Staat zu kontrollieren.8
Gemäß § 31 GVG sind Schöffen keine Staatsbediensteten, sondern üben ein Ehrenamt aus. Folglich stehen sie weder in einem Beamten- noch in einem sonstigen Dienstverhältnis zum Staat und bleiben trotz Amtsausübungen Privatpersonen.9 Eine externale Abbildung dessen formt das Selbstbildnis des Staates, welches Richterinnen und Richter verpflichtet, während der Gerichtsverhandlung eine Amtstracht zu tragen.10 Dieser Verpflichtung unterliegen Schöffinnen hingegen – anders als Rechtsrefendarinnen – gerade nicht.11
Das aus § 39 DRiG abgeleitete Mäßigungsgebot und das Gebot der strikten weltanschaulichen Neutralität gelten demzufolge primär für Berufsrichter.12 Ein Rückgriff auf § 34 Abs. 2 BeamtStG, welcher insbesondere vorschreibt, dass Beamten hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes Rücksicht auf das ihrem Amt entgegengebrachte Vertrauen zu nehmen haben, ist für Schöffen ausgeschlossen.
Demzufolge ist das Tragen religiöser Symbole (Kopftücher, Kreuze, Kippot, Dastar) durch einen Schöffen gerade nicht dem Staat als Verletzung der Neutralitätspflicht zuzurechnen, sondern würdigt vielmehr den § 20 Abs. 2 ArbGG,13 welcher fordert, dass Schöffen als bedeutsamer Teil des demokratischen Rechtsstaates die pluralistische Gesellschaft auf der Richterbank repräsentieren. Schöffen sollen ohne juristische Vorkenntnisse ihre Lebensrealitäten, Schichtzugehörigkeit sowie ihr Rechtsempfinden in die Entscheidungen einbringen.14 Folglich lässt sich aus den religiösen Bekleidungsvorschriften des Schöffen bei Amtsausübung keine Identifizierung des Staates mit der dadurch verkörperten Religion ableiten.15 Es handelt sich stattdessen um eine sichtbar ausgedrückte Glaubensbezeugung von Individuen, die als Einzelpersonen für den Staat handeln.16
Trotz des Bewusstseins des Gesetzgebers über die mögliche Kollision der grundrechtlich geschützten Religionsausübung mit den staatlichen Neutralitätsvorgaben wurde die Geeignetheit von Personen für das Schöffenamt i.S.d. § 34 Abs. 1 Nr. 6 GVG ausschließlich Religionsdienern und Ordensleuten abgesprochen. Der Gesetzgeber erkennt als entscheidenden Anknüpfungspunkt demnach ihr religiöses Amt, nicht hingegen ihre etwaige Amtstracht an.
Im Ergebnis missachtet das OLG Hamm die historische Einordnung des Schöffenamtes als bürgerliches Ehrenamt, die klare Abgrenzung zu Berufsrichtern sowie das Fehlen eines Neutralitätsgebotes im äußeren Erscheinungsbild für Schöffen.
II. Unzulässige Ausweitung des Neutralitätsgebots
Der Beschluss des OLG Hamm stützt die Streichung der kopftuchtragenden Schöffin von der Schöffenliste auf § 2 Abs. 1 JNeutG NRW i.V.m. § 52 Abs. 1 Nr. 1 GVG, weil § 2 Abs. 1 JNeutG NRW selbst keine Rechtsfolge für einen Verstoß gegen das Verbot religiöser Symbole oder Kleidungsstücke enthält. Nach Auffassung des OLG Hamm liegt ein über den Wortlaut von § 52 GVG hinausgehender sonstiger Grund vor.17
Gegen die Erweiterung des § 52 GVG auf sonstige Gründe ist jedoch der Wortlaut des § 52 GVG (Unfähigkeit zum Amt eines Schöffen; Eintreten von Umständen, bei deren Vorhandensein eine Berufung zum Schöffenamt nicht erfolgen soll) entgegenzuhalten, der ausdrücklich auf die §§ 32 bis 34 GVG Bezug nimmt, welche gerade nicht das Tragen eines Kopftuches als Grund der Unfähigkeit oder Ungeeignetheit für das Schöffenamt konstituieren.18
Besonders der direktdemokratische Legitimationsmoment der Schöffen als gesetzliche Richter, abgeleitet von den sie wählenden Vertrauenspersonen im Sinne von § 40 Abs. 2 S. 1 GVG, unterstreicht eine enge Auslegung des § 52 GVG.19
Zudem erfasst der Regelungszweck des § 2 Abs. 1 JNeutG NRW die Funktionsfähigkeit der Justiz durch die Wahrung des Neutralitätsgebotes. Ein objektiver Dritter kann jedoch angesichts der mangelnden Robenpflicht der Schöffen eindeutig zwischen den ehrenamtlichen Richterinnen und den hauptamtlichen Richterinnen differenzieren. Daher ist der § 2 Abs. 1 JNeutG ungeeignet zur Erreichung des angestrebten Ziels. Der § 2 Abs. 1 JNeutG NRW ist jedenfalls in dieser umfassenden Form im Bereich der Arbeitsgerichtsbarkeit und bei der weitläufigen Regelung des äußeren Erscheinungsbildes von ehrenamtlichen Richterinnen verfassungsrechtlich bedenklich.20
Das Gericht vernachlässigt überdies, dass die Einschränkung der Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einer hinreichend bestimmten Gesetzesgrundlage bedarf. Die Heranziehung von § 2 Abs. 1 JNeutG NRW i.V.m. § 52 Abs. 1 Nr. 1 GVG, durch die dem Bürger eine Rechtsposition entzogen wird, verstößt daher gegen das Analogieverbot zulasten von Bürgern.21
III. Diskriminierung
Im Übrigen verkennt das OLG Hamm den mit dem pauschalen Ausschluss vom Schöffenamt einhergehenden Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG sowie Art. 33 Abs. 3 S. 1 GG.
Sowohl das Gebot für Muslimas, ein Kopftuch zu tragen, das Gebot des Kippa-Tragens im Judentum, als auch Gebot des Tragens eines Dastar im Sikhismus sind religiös verwurzelte Bekleidungsvorschriften, dessen Befolgung eine verbindlich empfundene Pflicht ausdrückt.22 Eine derartig äquivalente Bekleidungspflicht existiert in der christlichen Glaubenslehre hingegen nicht; weder das Tragen eines Kreuzes noch eines Habits ist für Gläubige verpflichtend.23 Schließlich wird das im äußeren Erscheinungsbild „unsichtbare“ Christentum implizit bevorzugt.
Da das Verbot rein faktisch überwiegend, muslimische Frauen mit Kopftuch trifft, liegt in dem pauschalen Ausschluss als Schöffin mit Kopftuch eine mittelbare Diskriminierung.24
Das Kopftuchverbot für Schöffinen, das naturgemäß ausschließlich Frauen betrifft, mündet in einem intersektionalen Zusammenwirken von zwei Diskriminierungsformen: einerseits Sexismus und andererseits Islamfeindlichkeit.25 Folglich perpetuiert der Ausschluss kopftuchtragender Frauen von der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte bestehende Machtasymmetrien, die insbesondere Männer und nichtmuslimische Frauen begünstigen.26
IV. Fazit
Weder die bisherige Rechtsprechung noch Bundesgesetze ordnen eine Kleiderordnung für Schöffen an.27 Maßgeblich zur Befähigung des Schöffenamtes ist daher die im Einzelfall zu prüfende Verfassungstreue.28 Eine Gleichsetzung der Pflicht zur Verfassungstreue und gänzlicher Neutralität entbehrt hingegen jeglicher bundesgesetzlicher Grundlage.29 Deutschland ist gerade kein laizistischer Staat, sondern geprägt durch eine grundgesetzliche „Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulicher-religiöser Überzeugungen.30 Das Vorgehen des AG Dortmund perpetuiert daher bestehende Diskriminierungen und widerspricht den Prinzipien eines pluralistischen Rechtsstaats. Im Ergebnis begründet das Kopftuch nicht die Unfähigkeit zum Schöffenamt gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 1 GVG.31
1 OLG Hamm, Beschl. v. 11.4.2024 – 5 Ws 64/24, Rn. 1 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/Kopftuch-als-Schöffin/.
2 OLG Hamm, Beschl. v. 11.4.2024 – 5 Ws 64/24, Rn. 1 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/Kopftuch-als-Schöffin/.
3 OLG Hamm, Beschl. v. 11.4.2024 – 5 Ws 64/24, Rn. 4 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/Kopftuch-als-Schöffin/.
4 OLG Hamm, Beschl. v. 11.4.2024 – 5 Ws 64/24, Rn. 5 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/Kopftuch-als-Schöffin/.
5 OLG Hamm, Beschl. v. 11.4.2024 – 5 Ws 64/24, Rn. 6 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/Kopftuch-als-Schöffin/.
6 OLG Hamm, Beschl. v. 11.4.2024 – 5 Ws 64/24, Rn. 8 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/Kopftuch-als-Schöffin/; OLG Celle, Beschl. vom 23. September 2014 – 2 ARs 13/14 –, Rn. 3, juris.
7 Erdem, JuWissBlog Nr. 60/2024 v. 05.09.2024, https://www.juwiss.de/60-2024/.
8 Bader, NJW 2007, 2964, 2966.
9 Bader, NJW 2007, 2964, 2966.
10 BVerfG, Beschl. vom 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/17, Rn. 90.
11 Verfassungsbeschwerde gegen Beschl. des AG Dortmund vom 22. Mai 2024 - 3221 E. - 1. Jugendschöffen 7 B. 3 (Anlage 2), 4.7.2024, 5.
12 Nomos-BR/Staats DRiG/Johann-Friedrich Staats, 1. Aufl. 2012, DRiG § 39 Rn. 1.
13 Bader, NZA 2024, 1457, 1458.
14 Verfassungsbeschwerde gegen Beschl. des AG Dortmund vom 22. Mai 2024 - 3221 E. - 1. Jugendschöffen 7 B. 3 (Anlage 2), 4.7.2024, 5.
15 BVerfG, Beschl. vom 16.04.1995 - 1 BvR 1087/91 -, Rn. 10f.
16 LG Bielefeld, Beschl. v. 16.03.2006 - 3221 b E H 68, Rn. 15 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/streichung-einer-schoeffin-aus-der-schoeffenliste-wegen-des-tragens-eines-kopftuchs/; Hadadi, JuWissBlog Nr. 31/2024 v. 23.05.2024, https://www.juwiss.de/31-2024/.
17 OLG Hamm, Beschl. v. 11.4.2024 – 5 Ws 64/24, Rn. 14 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/Kopftuch-als-Schöffin/.
18 AG Fürth, Beschl. v. 7.12.2018 – 441 AR 31/18, Rn. 13.
19 AG Fürth, Beschl. v. 7.12.2018 – 441 AR 31/18, Rn. 13.
20 Bader, NZA 2024, 1457, 1458.
21 Verfassungsbeschwerde gegen Beschl. des AG Dortmund vom 22. Mai 2024 - 3221 E. - 1. Jugendschöffen 7 B. 3 (Anlage 2), 4.7.2024, 49.
22 Verfassungsbeschwerde gegen Beschl. des AG Dortmund vom 22. Mai 2024 - 3221 E. - 1. Jugendschöffen 7 B. 3 (Anlage 2), 4.7.2024, 62.
23 Verfassungsbeschwerde gegen Beschl. des AG Dortmund vom 22. Mai 2024 - 3221 E. - 1. Jugendschöffen 7 B. 3 (Anlage 2), 4.7.2024, 62.
24 EuGH, Urt. v. 15.07.2021 - C-804/18, C-341/19, Rn. 59.
25 Hadadi, JuWissBlog Nr. 31/2024 v. 23.05.2024, https://www.juwiss.de/31-2024/.
26 Hadadi, JuWissBlog Nr. 31/2024 v. 23.05.2024, https://www.juwiss.de/31-2024/.
27 LG Bielefeld, Beschl. v. 16.03.2006 - 3221 b E H 68, Rn. 14 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/streichung-einer-schoeffin-aus-der-schoeffenliste-wegen-des-tragens-eines-kopftuchs/.
28 LG Bielefeld, Beschl. v. 16.03.2006 - 3221 b E H 68, Rn. 19 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/streichung-einer-schoeffin-aus-der-schoeffenliste-wegen-des-tragens-eines-kopftuchs/.
29 Hadadi, JuWissBlog Nr. 31/2024 v. 23.05.2024, https://www.juwiss.de/31-2024/.
30 BVerfG, Beschl. vom 27. 01. 2015 - 1 BvR 471/10, Rn. 109, 135.
31 KG Berlin, Beschl. v. 09.10.2012 - 121 Ss 166/12 (120/12), Rn. 3,5 – abrufbar unter: https://www.recht-islam.de/urteile/id/das-kopftuch-einer-schoeffin-als-verfahrensruege/.